Streitgespräch über Energiewende und Naturschutz

Gisbert Lütke und Jan-Niclas Gesenhues

Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Jan-Niclas Gesenhues sorgte für Aufsehen mit seiner Sichtweise auf die Energiewende im Kreis. Mindestens bei Gisbert Lütke, der den Artenschutz dagegenhält. Ein Streitgespräch. Regionen wie der Kreis Steinfurt seien „Leistungsträger der Energiewende“, sagte der Emsdettener Grünen-Bundestagsabgeordnete Dr. Jan-Niclas Gesenhues vor einigen Tagen im Gespräch mit unserer Redaktion. Und lobte die Fortschritte beim Ausbau der Windenergie. Das rief neben anderen auch den Naturschutz auf den Plan, der den Grünen vorwarf, den Natur- und Artenschutz zugunsten der Energiewende und wirtschaftlicher Interessen zu verraten. Wir haben deshalb Grünen-MdB Jan-Niclas Gesenhues und Nabu-Kreisgeschäftsführer Gisbert Lütke unter der Moderation von Redakteur Michael Hagel zum Doppelinterview an einen Tisch gebracht.

Herr Lütke, sind die Grünen jetzt die Feinde des Natur- und Artenschutzes?

Gisbert Lütke: Nein. Wir haben aber einen Dissens, weil einseitig die Belange des Klimaschutzes in die Betrachtung gerückt und der Natur- und Artenschutz dabei etwas übersehen werden.

Herr Gesenhues, Sie haben immer gesagt, dass Klima- und Naturschutz zusammengedacht werden müssen. Gilt das unverändert?

Jan-Niclas Gesenhues: Klar! Die Artenaussterbe-Katastrophe ist mit der Klimakrise die große ökologische Krise unserer Zeit. Ich bin ja selbst Naturschützer und habe auch öffentlich Entscheidungen der Bundesregierung kritisiert, deswegen stehe ich da nicht im Verdacht, besonders unkritisch zu sein. Aber wir haben schon auch einiges im Naturschutzbereich geschafft, etwa bei den Artenhilfsprogrammen oder beim Vier-Milliarden-Euro-Paket für Moore und Feuchtgebiete – das größte Naturschutzpaket der letzten Jahrzehnte.

Als Beobachter hatte man lange Zeit das Gefühl, dass die Grünen und der ehrenamtliche Naturschutz ganz gut zusammengearbeitet haben.

Lütke: Das bezweifeln wir gar nicht, aber wir haben beim Ausbau der Windenergie bei uns im Kreis eine Situation erreicht, die artengefährdende Ausmaße annimmt. Wir haben bei den Vögeln teils massive Bestandsrückgänge. Dennoch werden geschützte Bereiche für die Windenergie in den Fokus genommen. Das Problem ist in der Vergangenheit schon diskutiert worden, deshalb stellt unsere Reaktion gar keine Überraschung dar.

Gesenhues: Für mich ist völlig klar: Naturschutzgebiete sind auszuschließen beim Ausbau der Windenergie. Aber der große Feind der Artenvielfalt ist nicht die Energiewende, sondern eine verfehlte Verkehrs- und Landwirtschaftspolitik. Ja, es gibt bei der Windenergie einen Zielkonflikt, den man bestmöglich lösen muss. Aber klar ist auch: Artenschutz braucht Klimaschutz, denn wenn die Klimakrise weiter eskaliert, dann gehen auch unsere Moore und Feuchtgebiete kaputt.

Eigentlich besteht doch Konsens, dass Windparks nicht in direkter Nähe zu sensiblen Naturschutzzonen errichtet werden sollen. Wie ist da die aktuelle Debatte in Greven einzuordnen?

Lütke: Da werden lediglich die in Anspruch zu nehmenden Areale betrachtet, darüber hinaus nichts. Da sind die Auswirkungen, die von diesen neuen Windstandorten ausgehen werden, erwartbar, für den Großen Brachvogel etwa werden sie gravierend sein. Oder in Emsdetten-Sinningen, wo Zugvogeltrassen beeinträchtigt werden. Wir müssen solche Folgewirkungen sehen, aber die spielen in den Genehmigungsverfahren gar keine Rolle.

Gesenhues: Ich stimme zu, dass wir uns die Auswirkungen des Windkraftausbaus auf die Gesamtpopulation angucken müssen. Deshalb wollen wir zwei Prozent der Landesfläche für Windenergie reservieren – und den Rest freihalten. Wir sind im Kreis schon sehr weit beim Ausbau der Windenergie, hier geht es zu großen Teilen um Repowering. Sowohl der Schutz der Artenvielfalt als auch die Energiewende entscheidet sich im ländlichen Raum, weil wir hier die Fläche haben – aber auch die Konflikte um die Fläche. Natur, Energie, Landwirtschaft, Verkehr, da brauchen wir einen grundsätzlich nachhaltigeren Umgang mit Fläche.

Lütke: Ja, aber wenn wir hören, dass der Kreis Steinfurt schon jetzt überproportional zur Erzeugung regenerativer Energie beiträgt, dann weiß ich beim besten Willen nicht, warum wir hier noch mehr leisten müssen.

Sie würden sagen: Der Kreis hat seinen Beitrag geleistet, jetzt sollen andere ran?

Lütke: Grundsätzlich ja. Da, wo wir konfliktfreie Bereiche haben, sollten wir sie nutzen, aber gerade in sensiblen Bereichen verbietet sich der Bau weiterer Windenergieanlagen.

Gesenhues: Wir haben noch Bereiche im Kreis, in denen wir Windenergieausbau machen können. Was ich aber zum Ausdruck bringen wollte: Der Kreis Steinfurt ist ja schon Vorreiter, es wird Zeit, dass auch andere Regionen nun nachziehen. Von denen erwarte ich, dass auch die ihren Beitrag leisten zur Energiewende.

Lütke: Wir leisten ja schon sehr viel, da müssen andere Regionen nachziehen. Denn wir gefährden die letzten hier noch vorkommenden, schützenswerten Arten. Mit Repowering der vorhandenen Anlagen können wir die Energiemenge vervielfachen, aber nicht mit immer mehr Anlagen. Es geht dabei ja auch nicht nur um Klimaschutz, denn für viele hat sich Windkraft zu einer lukrativen Angelegenheit entwickelt.

Gesenhues: Aber wir haben einfach keine Zeit mehr, jetzt einfach mal abzuwarten, ob andere nachziehen, denn die Klimakrise eskaliert.

Herr Lütke, dass mit Windkraft Geld verdient wird, ist doch nicht verwerflich.

Lütke: Aber dann sollten wir ehrlich konstatieren, dass die angebotene Bürgerbeteiligung in Bürgerwindparks doch sehr gering ist. Wenn wir den Bürgern so ein Modell anbieten, dann dürfen wir es nicht eng begrenzen, sonst ist es eben kein Bürgerwindpark.

Nochmal zum Vogelschlag an Windrädern: Es kommen doch deutlich mehr Vögel im Straßenverkehr oder an Fensterscheiben zu Tode, oder?

Lütke: Es geht ja nicht nur um den Vogelschlag. Es geht wesentlich um das von den Anlagen ausgehende Meideverhalten von Vögeln. In Sinningen etwa haben wir eine 1600 Meter lange Schutztrasse vereinbart, dennoch gehen die Überlegungen dort aktuell wieder dahin, in diese Trasse hineinzubauen. Das sind aber ganz wichtige Strecken für die Zugvögel und für den Populationsaustausch für den Großen Brachvogel. Wir dürfen die Zugwege nicht zubauen, genau das passiert aber.

Gesenhues: Ich glaube, wir brauchen grundsätzlich ein anderes Naturschutzrecht. Wir gucken viel zu sehr auf Individuen, wir brauchen stattdessen einen stärkeren Blick auf die Populationen. Bei regional stabilen Populationen kann man dann auch Vereinfachungen beim Ausbau der Erneuerbaren zulassen, bei nicht stabilen Populationen muss es Einschränkungen geben. Energiebetreiber und Naturschützer haben dann das gleiche Interesse. Und wir brauchen nicht nur ein Bundesnaturschutzgesetz, sondern ein Bundesnaturwiederherstellungsgesetz. Wir haben viel Natur zerstört, wir müssen sie wiederherstellen, wo sie kaputt ist, in Mooren und Wäldern. Das liegt im überragenden öffentlichen Interesse.

Lütke: Ich denke, wir haben ein Naturschutzrecht, nur ist es nicht wirksam genug. Verstöße werden nicht oder kaum sanktioniert. Wir haben im Kreis Bestandsrückgänge beim Kiebitz, beim Großen Brachvogel, die Uferschnepfe gibt es hier bereits nicht mehr, die Bekassine haben wir auch schon lange nicht mehr beobachten können – das sind Vogelarten, für die wir hier eine besondere Verantwortung tragen. Und sie gehen trotz eines vorhandenen Naturschutzgesetzes verloren, aber das bleibt folgenlos.

Gesenhues: Da stimme ich zu. Wir haben ein riesiges Vollzugsdefizit im Natur- und Umweltrecht, vor allem weil das Personal dafür in den Behörden fehlt. Wir haben in den NRW-Koalitionsvertrag 1000 neue Stellen für Umwelt und Natur reingeschrieben. Und wir brauchen einen Pakt für Beschleunigung im Naturschutzrecht. Auch weil das nicht klappt, haben wir so viele EU-Vertragsverletzungsverfahren an der Backe.

Im Grunde haben wir doch schon längst ein weltweites Artensterben, auch durch die Klimakatastrophe. Ist die Energiewende als zentraler Beitrag zum Klimaschutz da nicht von absolut überragender Bedeutung?

Lütke: Wir können ein Problem nicht lösen und damit ein anderes schaffen. Da sind wir aber dabei, genau das zu tun. Die Ziele der Biodiversitätsstrategie können wir gar nicht erreichen, wenn wir durch den Ausbau der Erneuerbaren den Rückgang der Biodiversität beschleunigen. Wir müssen konfliktfrei regenerative Energie erzeugen – wenn im Kreis Steinfurt die Möglichkeiten ausgeschöpft sind, dann eben woanders.

Gesenhues: Wir müssen Artensterben und Klimakatastrophe als ökologische Krise insgesamt begreifen. Artenschutz braucht Klimaschutz, aber Klimaschutz braucht auch Naturschutz. Wir müssen die rechtlichen Bedingungen so hinkriegen, dass die Betreiber erneuerbarer Energien ein Interesse an einer intakten Artenvielfalt haben und gleichzeitig der Naturschutz ein Interesse an der Energiewende hat. Etwa, indem wir die Anlagenbetreiber verpflichten, in Artenhilfsprogramme einzuzahlen.

Lütke: Das funktioniert nicht. Wir Naturschützer werden doch von den Genehmigungsverfahren weitgehend ausgeschlossen, wir kriegen da vieles kaum mit.

Gesenhues: Ich bin optimistisch, dass es gelingen kann. Und natürlich muss der Naturschutz an den Verfahrensschritten beteiligt werden.

Bericht: IVZ-Aktuell Andre Hagel

Foto: Oberheim aus der IVZ online

Zurück